Karate

Karate (leere/unbewaffnete Hand) ist der heute bekannte Oberbegriff für eine Kampfkunst, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Japan entstand. Wie in den allen waffenlosen Kampfkünsten in West und Ost dienen auch im Karate die Arme und Beine als „Waffen“ zur Verteidigung und zum Angriff gegen eine oder mehrere Gegner. Zum technischen Grundrepertoire des Karates gehören somit eine Vielzahl von Tritten, Schlägen, Fauststößen sowie Block- und Abwehrtechniken die ergänzt werden um Haltegriffe, Gelenkhebel, Würfe und die generelle Kenntnis der Schwachstellen des menschlichen Körpers. Um eine Kampfkunst wie Karate zu erlernen, bedarf es also der intensiven, langjährigen Schulung entsprechender Bewegungsmuster und Bewegungsprinzipien, um die jeweilige Technik in den verschiedensten Situationen so effektiv wie möglich ausführen zu können. Neben der Entwicklung der körperlichen Aspekte sollte der Trainierende (der Karateka) die Eigenwahrnehmung und Antizipationsfähigkeit für Aktionen eines Übungspartners oder potentiellen Gegners verbessern. Und wie für jede Sportart, in der Kunst, der Musik und auf allen Gebieten der körperlichen, geistigen Übung liegt im Karate der Schlüssel für jeden Fortschritt und die Entfaltung der eigenen Fähigkeiten im regelmäßigen Training. Bewegungen, die für Anfänger und Außenstehende oft wie Zauberei anmuten, sind allein Ergebnis jahrelanger Anstrengungen und alles beginnt mit ersten Schritten in einem Anfängerkurs. Mit der Zeit werden die Anforderungen stetig erhöht, die Bewegung komplexer und unter guter Anleitung soll es dem Karateka möglich werden, sein körperliches und geistiges Potential voll zu entfalten.

Oberstes Ziel im Karate ist es über die ständige Wiederholung und Korrektur der Technik immer effektivere Bewegung zu erlernen, um sie in verschiedenen Situationen (Training, sportlicher Wettkampf, Selbstverteidigung) anzuwenden. Diese äußerlich sichtbare Entwicklung des Karatekas sollte einhergehen mit einem inneren Reifeprozeß und der damit verbundenen Auseinandersetzung um die sich wandelnde Motivation und Lernbereitschaft und die körperlich, geistigen Veränderungen im Alterungsprozeß. Denn das Karate eines 20-jährigen wird und muß sich unterscheiden vom Karate des 50-jährigen Karatekas. Diese Differenzen resultieren aus der Entwicklung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten über die Zeit und sind für sich genommen nie Ansatzpunkt, um zwischen gutem und schlechtem Karate zu unterscheiden. Über alle Altersgruppen und auf jeder Entwicklungsstufe (Anfänger, Fortgeschrittener, Meister) gibt es gute wie schlechte technische Ausführungen und Bewegungen. Zentrale Kriterien zur Beurteilung sind die Effektivität, Effizienz und situationsbedingte Angemessenheit der Technik und das Verständnis über die Grundprinzipien der jeweiligen Karate Stilrichtung. Für jeden der offen ist bietet das Karate deshalb zeitlebens Anreize für das „neu“ erlernen alt bekannter Techniken und zur Verfeinerung der Bewegungen. Zugleich liegt hier auch der Anlaß für Frustration und Enttäuschung, da ein Ende des Lernens und ein letztendliches Meistern des Karates ausgeschlossen sind. Mit dieser paradoxen Situation wird jeder Karateka irgendwann immer wieder konfrontiert und trifft Entscheidungen. Manche beenden nach Jahrzehnten das Training, da sie keinen Sinn mehr darin sehen etwas zu üben, was sich nie bis ins letzte Detail erfassen läßt und wo nicht einmal ein erreichtes Niveau ohne stetiges Üben konserviert werden kann. Für andere liegt ein Sinn des Karates in der fast schon einer „Meditation in Bewegung“ anmutenden ständigen Wiederholung, der technischen Verbesserung im Detail und nie abgeschlossenen körperlichen, geistigen Entwicklung, die bis ins hohe Alter immer wieder neue Erkenntnisse bereithalten kann.

Ursprung und Hintergrund

Die geographischen Wurzeln des modernen Karates liegen in den traditionellen Kampfkünsten Okinawas, einer dem japanischen Hauptland vorgelagerten Inselgruppe. In unterschiedlichen Varianten waren die Grundformen und Prinzipien des Karates in den dortigen Kampfkünsten lange bekannt. In den 1920er Jahre wurde Karate in Japan erstmals der breiteren Öffentlichkeit vorgestellt und es entwickelten sich in der Anfangszeit sehr früh unterschiedliche Stilrichtungen (ryu) respektive Übungsformen mit abweichenden Zielen und Schwerpunkten. Zu den bekanntesten und vier größten Stillrichtungen zählen Shotokan, Wado Ryu, Shito Ryu und Goju Ryu. Ungeachtet dessen verbreitet sich nach dem Ende des II. Weltkriegs das Karate weltweit und so gelangte Karate nach Europa und Deutschland, etablierte sich und florierte ab den 1970er Jahren in unzähligen Vereinen (Dojo).

Um Grundzüge des Karate zu verstehen, ist es hilfreich, den Entstehungskontext etwas genauer zu kennen. Vor den 1920 er Jahren und lange danach dominierte in Japan noch die Kriegskünste, die in enger Linie zu den klassischen Kampfkünsten (Budo) der Samurai-Ära standen und in deren Zentrum die bewaffnete Auseinandersetzungen mit dem Schwert (Katana), Hieb- und Stichwaffen, Pfeil und Bogen auf dem Schlachtfeld standen. Es gab in dieser feudalen Zeit bereits ergänzende waffenlose Übungs- und Schulungsformen (jutsu) und unzählige Stilrichtungen, um die jeweiligen Techniken mit oder ohne Waffe für den Ernstfall zu verfeinern. Allerdings waren die Kenntnisse der Kriegskünste und deren Anwendung der professionellen Kriegskaste (Samurai) und später zivilen Ordnungskräften vorbehalten. Darüber hinaus stellte in dieser Ära jede waffenlose Kampfkunst die zweitbeste, also schlechtere Variante dar, auf die Mann zurückgreifen mußte, wenn durch einen unglücklichen Umstand keine Waffe zur Hand war. Der im Film dargestellte unbewaffnete Kampf gegen bewaffnete Gegner ist ein Mythos des modernen Actionfilms, der mit der Realität des Kampfes gestern wie heute kaum etwas gemein hat.

Die sukzessive Auflösung der Feudalzeit und Modernisierung Japans hatte wiederum Auswirkungen auf die Entwicklung der Kampfkünste. Auf der einen Seite verschwanden mit dem Ende der Ära der Samurai unzählige Schulen bzw. es war nicht mehr notwendig, die Kriegskünste in ihrer bisherigen Form zu lehren und zu lernen. Auf der anderen Seite „zivilisierten“ sich die Kriegskünste ihrerseits und modifizierten sich in ihrer Funktion. Die Konfrontation auf dem Schlachtfeld und der Kampf auf Leben und Tod rückten in den Hintergrund, statt dessen ging es um die körperliche und geistige Schulung und das Messen im sportlichen Wettkampf. Das oft rohe Kriegshandwerk wurde auch deshalb um unzählige rituelle Aspekte erweitert, die Strukturen für den Wettkampf etabliert und so die Grundlagen für die Entwicklung der modernen Kampfkunst verbreitert. Parallel stellte sich also die Frage, wer überhaupt die Kriegs- bzw. Kampfkünste zu welchem Zweck erlernen sollte? Sobald die Zuordnung zu einer spezifischen Kaste mit einer definierten Funktion (hier Samurai und zivile Ordnungskräfte) aufgehoben wurde, mußte zugleich das bis dato oft geheime (esoterische) Wissen über den Kampf publik gemacht werden und „zivile“ sprich weniger letale Übungsformen definiert und gelehrt werden, um die Ausübung in der Breite und in Wettkampfform zu gewährleisten.

In diesem Umfeld entwickelte sich das moderne Karate und es stellte sich zu Beginn bereits Fragen, die auch den Karateka von heute beschäftigen und die Entwicklung der einzelnen Stilrichtungen seit Beginn prägen: Zu welchem Zweck soll er/sie überhaupt Karate erlernen? Welchen Stellenwert hat der Wettkampfe und wie sind hierzu traditionelle Übungs- und Bewegungsformen zu werten? Nützt Karate zur Selbstverteidigung und wie ist das entsprechende Training zu konzipieren? Welchen Sinn haben die ganzen Rituale und strikten Umgangsformen (Etikette) im Karate und läßt sich die stets betonte geistige Entwicklung und persönliche Reife über eine Kampfkunst überhaupt fördern?

Antworten auf diese und ähnliche Fragen lassen sich sowohl im Training über die praktischen Übungen, in Gesprächen vor und nach dem Training mit anderen Karateka, über den Besuch von Lehrgängen und in unzähligen Büchern finden. Für jeden Karateka fallen die Antworten durchaus unterschiedlich aus. Manchmal sind sie befriedigend, manchmal völlig unzureichend und so wie sich die Fragen über die Zeit ändern und der Einblick in das Karate sich mit der persönlichen Entwicklung verschiebt, modifizieren sich die Antworten. In einem guten Trainingsumfeld und bei guter Anleitung bietet das Karate aber stets die Möglichkeit, körperliche und geistige Aspekte zu schulen und die Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit zu fördern. Und wie in fast allen Kampfkünsten ist Karate dafür nur ein Vehikel und bietet Übungsformen mit speziellen Funktionen, deren Sinn über die Kenntnis der Biomechanik des menschlichen Körpers, physikalischer Gesetze und effizienter wie effektiver Bewegungen hinausweisen kann.

Wado Ryu Karate

Das erwähnte Wado-Ryu-Karate ist eine der vier großen Karatestilrichtungen und wurde von Hironori Ohtsuka (1892 – 1982) in den 1930er Jahren entwickelt. Das Wado Ryu Karate hat das besondere Merkmal, dass es sich explizit aus den erwähnten zwei Quellen speist: Einerseits gründet es in den traditionellen japanischen Kampfkünsten (Yagyu Kenjutsu, Shindo Yoshin Ryu Jiu-Jitsu Kempo), in denen Sensei (Meister) Ohtsuka ursprünglich unterrichtet wurde. Andererseits gehörte Ohtsuka früh zu den ersten Übenden des aus Okinawa stammenden „neuen“ Karate, welches Ohtsuka mit und von Gichin Funakoshi (Begründer des Shotokan), Kenwa Mabuni (Begründer des Shito Ryu) und Choki Mobuto lernte und in Japan verbreitete. 1934 gründete Ohtsuka schließlich die Vorläuferorganisation des Wadokai Verbandes, die Dai Nippon Karate Shinko Karubu, so daß 1934 als Gründungsjahr des Wado-Ryu-Karate angesehen werden kann.

Sensei Ohtsuka verband im Wado Ryu aufs engste die Elemente des modernen Karate, des Shindo Yoshin Ryu und Ju Jutsu miteinander und formte so eine Stilrichtung. Er war der Erste Karatemeister, der nicht aus Okinawa stammte und einen eigenen Karate-Stil in enger Anlehnung an die japanische Tradition des Budo entwickelte. 1938 wurde das Wado-Karate als selbstständige Stilrichtung in der Dai Nippon Butokukai eingetragen. Während des 2. Weltkriegs kam die Verbreitung der Kampfkünste in Japan weitgehend zum Erliegen und erst in den 1950er Jahren wurde die unterbrochene Entwicklung fortgesetzt. 1966 erhielt Ohtsuka vom japanischen Kaiser ein Diplom, das seine große Bedeutung in der Entwicklung des Karate ehrte. In den 60er Jahren verbreiteten Tatsuo Suzuki (geb. 1928), Teruo Kono (1934 – 2000), Masafumi Shiomitsu (geb. 1940) und andere zahlreiche japanische Meister das Wado-Ryu-Karate in Europa. In Deutschland baute Sensei Teruo Kono das Wado Ryu auf.

Der Name Wado Ryu setzt sich zusammen aus dem japanischen Schriftzeichen für „wa“, das sich im übertragenen Sinne als „Harmonie“ umschreiben läßt und „do“, was allgemein als „Weg“ bezeichnet wird. Bereits diese Namensgebung verweist darauf, dass die Techniken des Wado Ryu unspektakulär scheinen und ohne überflüssige Kraft und Anstrengungen ausgeübt werden sollen. Körper und Geist sollen harmonisch in den Bewegungen aufeinander abgestimmt sein und auf die an ihn gestellten Anforderungen soll der Karateka gelassen reagieren. Aus der Ruhe und Entspannung soll die Technik explosiv und in höchster effektiv ins Ziel gebracht werden und Körper und Geist sofort wieder in einen ruhigen Zustand gebracht werden, um unmittelbar erneut in alle Richtungen agieren zu können. Was einfach klingt setzt allerdings voraus, die Techniken und Bewegungen in ihrer Funktion zu verstehen und über das intensive Training alle überflüssigen körperlichen und geistigen Anstrengungen zu reduzieren. Zwar muten solche Aussagen auf den ersten Blick esoterisch an, jedoch entsprechen die Bewegungen und Techniken im Wado Ryu modernen biomechanischen und physikalischen Erklärungen zur effizienten Kraftentfaltung und Energieübertragung. Genau deshalb lassen sich die Techniken und Bewegungen im Wado Ryu stets im Detail hinterfragen und über ihre Funktionalität erklären. Der bloße Glaube hilft nicht weiter. Vielmehr kann und soll der interessierte Karateka ab einem bestimmten Niveau anhand der eigenen Körpererfahrungen so die Prinzipien des Wado Ryu überprüfen und sein eigenes Bewegungsmuster voll entwickeln.

Prinzipien des Wado Ryu

Wie in jeder Karatestilrichtung existieren auch im Wado Ryu unterschiedliche Prinzipien, in denen einerseits die philosophischen Leitideen der konkreten Stilrichtung bzw. des Karate allgemein abgebildet und vermittelt werden sollen. Andererseits werden anhand der Prinzipien auch die technische Anwendung der Schläge, Tritte, Stöße und Abwehr- und Blocktechniken als auch zugehörige Bewegungsmuster umschrieben. Was dabei auf die einzelne Technik angewendet werden kann, läßt sich zugleich abstrakt als generelles Prinzip fassen. Und auch hier werden die Prinzipien komplexer, je weiter der Karateka in seinen Übungen kommt und je höher sein Niveau ist. Spätestens mit dem Übergang von den farblich unterschiedlichen Schülergraden (Kyu Grade) zu den schwarzen Meistergraden (Dan) sollten die Grundprinzipien des Wado Ryu in der geistigen Haltung und der Bewegung in den Techniken zu sehen und zu spüren sein. Die Vervollkommnung dieser Prinzipien ist schließlich ein Kernziel der weiteren Entwicklung als Meister respektive Danträger, nachdem die technische und motorische Basis in den Jahren des Trainings als Schüler gelegt worden ist.

Shuhari

In dieser Hinsicht vollzieht sich der Fortschritt eines Karateka in Stufen: 1. Lernen, 2. Abweichen, 3. Sich entfernen. Zunächst gilt es genau umzusetzen, was der Lehrer oder die Lehrerin im Training vermittelt. Dazu gehört z. B. die Ausführung der korrekten Technik und der Bewegungsmuster. Erst wenn diese Grundlagen vollständig erlernt worden sind, ist es in einem zweiten Schritt möglich, allmählich zu versuchen sich selbst zu entwickeln und eigene spezifische Bewegungsmuster zu finden. Ansonsten wird das Karate zur bloßen technischen Kopie des jeweiligen Trainers und hat kein Eigenleben. In dieser Hinsicht sollte man sich von seinen früheren Erfahrungen entfernen und seinen eigenen Weg gehen, was aber nicht heißt, die geistigen und technischen Prinzipien des Wado Ryu zu verwerfen. Letzteres mündet meist in einer Sackgasse und fehlerhaften Techniken wie Bewegungen. Allein der erste Schritt (Shu) nimmt viele Jahre in Anspruch, und wenn er nicht bis zum Ende korrekt ausgeführt wurde, besteht keine hinreichende Basis, an der der zweite Schritt (Ha) ansetzen kann. Spätestens in dieser Phase sollte der Karateka fühlen, ob man in die falsche Richtung gegangen ist oder nicht und sein eigenes Training und sein Karate zu überprüfen. Ohne diese stetige Reflektion und kontinuierliche Verbesserung ist es schlicht unmöglich, den dritten Schritt (Ri) überhaupt in Angriff nehmen zu können.

Karate ni Sentenashi

Karate ist ohne Angriff. Trotz dem Karate eine Kampfkunst ist, wird über diesen Ausspruch zumindest vermittelt, dass Karate kein aggressiver, sondern ein defensiver Sport ist. Über die zum Teil paradoxe Situation eine Kampfkunst zu erlernen, aber dennoch den realen Kampf nicht suchen zu wollen, hat jeder Karateka im Laufe seiner Trainingsjahre immer wieder nachzudenken. Zumindest sollte für das Training gelten, die Aggressivität zu kontrollieren und „reinen“ Herzens im Training den anderen Karateka zu begegnen.

Jenseits der in dieser Aussage angelegten Grundeinstellung, dass ein guter Karateka nie zuerst angreift – nicht nur beim Sport, sondern in allen Lebensbereichen – dient das Prinzip in der Praxis dazu, eine Kampfkunst in einem strukturierten Rahmen überhaupt erlenen zu können. Ansonsten würde die Verletzungsgefahr groß sein und die technische Perfektion im Chaos des Kampfes nicht erreicht werden können. Unzweifelhaft ist die kontrollierte Aggression für den Erfolg im Wettkampf und in realen Verteidigungssituationen notwendig und es gilt, diese Kraft im guten Training unter Anleitung überhaupt zu erkennen und zu kanalisieren.

Shingi Ichinyo

Der Geist muss durch das Training von Techniken geschult werden und umgekehrt wird die Technik durch das Training des Geistes vervollkommnet. Dies ist eine der Regeln des Karate, und es ist wohl die wichtigste. Das Training von Techniken ist genauso wichtig wie die Schulung des Geistes. Letztlich müssen Techniken (Gi) und Geist (Shin) zusammenkommen (Ichinyo).

Die wichtigsten technischen Prinzipien des Wado Ryu

Vor dem Hintergrund seines Wissens in den traditionellen Kampfkünsten entwickelte Sensei Ohtsuka eigene Vorstellungen über das neue Karate und spätere Wado Ryu. In erster Linie beseitigte er alle ausholenden, überflüssigen Bewegungen, verkürzte die Stände und veränderte jene Techniken, für deren Anwendung ein großer Energieaufwand notwendig war. Im Zentrum seiner Überlegungen stand die Effektivität und Funktionalität der Technik, um den höchsten Grad an Bewegungsfreiheit und Flexibilität ohne Abstriche bei der Wirksamkeit zu gewährleisten. Man sagt, Sensei Otsuka hätte dabei das Bewegungsbild alter Menschen studiert und bei diesen die Verbindung zwischen Vernunft und Wirksamkeit in der Bewegungsökonomie festgestellt. Darüber hinaus resultiert sein Nachdruck im Hinblick auf die Effektivität und Schnörkellosigkeit der Techniken aus der Übertragung seines Wissens über die Prinzipien des Schwertkampfes und der Konfrontation mit einem Gegner, der ein Schwert oder Messer (Tanto) einsetzt. Überflüssige, große Bewegungen und kräftezehrende Techniken sind in einer solchen Situation ungeeignet. Schnelligkeit, Präzision und Effektivität die Grundvoraussetzungen, um ohne tödliche Verletzungen eine solche Konfrontation zu überstehen.

Entsprechend diesem Prinzip wird im Wado-Ryu der Hauptakzent auf Bewegungen des Rumpfes (des Zentrums) gelegt. Als Resultat dieser Überlegung entstand mit dem Wado Ryu eine Kampfkunst, die viele verschiedene Formen des Ausweichens mit dem Körper (Tai Sabaki) und der Energiegewinnung aus der Körperbewegung beinhaltet. Folglich werden die Bewegungen im Wado-Ryu wesentlich enger als z.B. im Shotokan ausgeführt, sie sind weniger direkt und betonen das Ausweichen, und nutzen die Kräfte der Rotation und Translation des Körpers. Auch findet man im Wado-Ryu viele Parallelen zum Aikido, Ju Jutsu und Kendo. Das Ausweichen ist dabei immer von einem präzisen Schlag auf einen Vitalpunkt (Atemi) begleitet und endet oft mit einem Wurf und einer Fixierung des Gegners am Boden.

Alle Techniken des Wado-Ryu basieren letztlich auf der Anwendung von drei Prinzipien (San mi ittai)
Ten I = Änderung der Stellung/Position
Ten Tai = Änderung der Körperbewegung
Ten Gi = Änderung der Technik

Wie bereits erwähnt wird eine besondere Betonung auf das Ausweichen gelegt. Hier unterscheidet man innerhalb des Stils drei grundsätzliche Regeln.
nagasu = fließen lassen
inasu = ausweichen, zurückgeben
noru = mitgehen, einsteigen, reiten, fahren

Die Kampfführung und Technikausführung im Wado Ryu sind demnach möglichst rationell. Es sollen keine falschen und überflüssigen Technik angewendet werden (mudana waza). Alle überflüssige Bewegungen (mudana idoki/dosa) und überflüssiger Kraftaufwand (mudana chikara) behindert die Effektivität. Angestrebt wird die höchste Mobilität durch Kontrolle des eigenen Körperschwerpunktes (relativ hohe und kurze Stellungen), um auf Angriffe aus allen Richtungen reagieren zu können. Zugleich soll in die Technik bzw. den „Körper“ des Gegners schnell eingedrungen werden und dessen Körperschwerpunkt und sein Gleichgewicht effektiv kontrolliert werden (kuzushi). Die Abwehr bzw. der Angriff und die Positionsveränderung erfolgen gleichzeitig, so daß kein Zeitverlust eintritt, wobei die Kontertechniken immer auf vitale Punkte (Kyusho) des Angreifers gerichtet sind.

Im Wado-Ryu wurden ursprünglich folgende Katas gelehrt: Pinan 1-5, Kushanku, Naihanchi, Seishan und Chinto. Heute werden daneben noch weitere Katas wie z.B. Bassai oder Wanshu geübt. Weitere wichtige Übungsformen im Wado-Ryu sind: Tantodori (Messerabwehr), Kihonkumite, Tachidori (Schwertabwehr) und Idori (Abwehr im traditionellen Sitz auf den Knien/Seiza gegen verschiedene Angriffe).

© Christian Christen